Sirupgetränktes Popcorn, fussballspielende Grossmütter

Vergnügungsboote, Japans erstes Kino, Monstershows und Geishas – im ältesten Viertel Tokyos war die Sinnenlust schon immer zu Hause. Und inmitten Kannon, die vielleicht glücklichste Göttin der Welt.

Um von einer Welt in die andere zu kommen, muss man in Tokyo durchs Dunkel gehen

Salarymen in schwarzen Anzügen verstopfen die U-Bahn, bis zum Bahnhof Ginza scheint es an jeder Station enger zu werden und dichter und dunkler. Dann spült es immer mehr Menschen nach draussen. Die Station Ueno gleitet vorbei, noch ein Stück, dann Asakusa. Aussteigen. Die kühlen gläsernen Fassaden Shimbashis, in denen sich die Zukunft spiegelt, grüssen aus der Ferne, vom Dach der Asahi-Brauerei am Fluss gleisst die von Philippe Starck designte goldene Flammenskulptur im Vormittagslicht wie ein wuchtiger Füller, den jemand dort abgelegt und vergessen hat, an der grossen Kreuzung steht der Morgenverkehr. 

Und dann ist da dieses Tor

Ein wuchtiger knallroter Lampion baumelt in der Mitte, farbenprächtig gewandete Rikschafahrer lümmeln in ihren Gefährten davor, und nun sind es nur noch ein paar Schritte. Hindurch. Auf die andere Seite des Tors. In ein anderes Leben.
Sechsundachtzig Puppenstuben-Läden rechts und links, schnurgerade wie aufgereiht auf zwei Ketten, verborgen noch hinter schweren Rollläden: die Shoppingstrasse Nakamise, die sich dem mächtigen Sensoji, Tokyos grösstem Buddhistentempel, entgegenstreckt, als wolle sie ihm all den Tand in ihren Regalen als Opfergaben darbieten. Die 6-Uhr-Glockenklänge sind zusammen mit den Sutra-Gesängen aus dem Tempelinnern im Atem des Morgens verweht, als der Alltag wie immer hinten beginnt: an den blechbeschlagenen Hinterpforten.

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«Ohayo- Morgen!»

grunzt die gebückte Alte vom Süssigkeitenladen, während sie ein paar ausgeräumte Warenkartons vor die Tür hinter dem Haus stellt, «Genki – alles klar?» Ihre Nachbarin grunzt zurück. «Warst gar nicht im Sentô heute Morgen, was war denn los?» «Mein Bein, weisste doch!» Sie nicken sich zu, sind schon verschwunden, und vorne rattern die Rollläden hoch, enthüllen die falschen Schwerter, die billigen Yukatas, die kitschigen Häschenfigürchen in Kimonos und süsse Kaminariokoshi, eine Art sirupgetränktes Popcorn. In der Seitenstrasse kickt eine betagte Obasan vor einem Schaufenster Bälle mit ihrem Enkel, zwei Fahrradfahrer halten an für ein Pläuschchen, zwei faltige alte Männer hocken vor einem verwitterten Holzbrett in der Morgensonne und spielen Go.
Ein Dorf ist es, das sich noch etwas träge der Morgensonne entgegenstreckt. Ein Dorf in der grössten Stadt der Welt, mitten im 16-Millionen-Moloch Tokyo. Ein Dorf namens Asakusa.

«Asakusa ist eine Hure!»

...kichert Ryoko, während sie im Kannon-Onsen auf einem Schemel sitzt und ihre Wäsche mit einem Stück Seife rubbelt. «Asakusa hat sich immer gut verkauft, so haben wir hier auch leben können! Die alten Shogune haben Asakusa oft mit einer Lotosblume verglichen: eine wunderschöne Pflanze, die besonders gut auf modrigem Schlamm wächst!»
Ryoko, 56, kommt jeden Tag hierher. Wie die kleine Alte, die neben dem dampfenden Becken in der feuchten Luft ihre Gymnastik macht, jeden Morgen, seit vielen Jahren schon, bevor sie zum Arbeiten in der Küche des Ramen-Shops im nächsten Block verschwindet.
Die gekachelten Wände sehen aus, als hätten sich die Jahre an ihnen festgekrallt, auf den beschlagenen Spiegeln prangt Bierwerbung. Ryoko klaubt ihre Sachen zusammen und tapst über den nassen Boden in die Umkleidekabine. Zwei Trockenhauben aus den Siebzigern starren auf die durchgesessenen Sessel, Staub entspannt sich auf der Massagematte, der Sumokalender, auf dem die wichtigsten Kämpfe der nächsten Zeit vermerkt sind, trägt eine Patina, die ihm noch nicht zusteht.
«Ohne die Kannon», sagt Ryoko versonnen, «wären die meisten von uns hier verloren.»
Text + Bilder: © "DU - das Kulturmagazin", www.du-magazin.com

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