Zum Dessert ein bisschen Glück

Mittag ist es geworden, in den Ramen-Buden hocken die Strassenhändler auf eine schnelle Suppe. 
Zum Dessert ein bisschen Glück von der Kannon: 100 Yen, 1 Franken, kostet es, die Dose mit den numerierten Stäben zu schütteln, bis einer herausfällt. Unter der Nummer findet man in einem der unzähligen Schublädchen in einer Tempelzwischenwand schliesslich die Weissagung. Ist sie wohlwollend, trägt man sie in der Jackentasche mit sich herum; ist sie von Übel, hängt man sie gefaltet an ein Gestell im Tempel. 
«Schütteln Sie noch mal!» rät der junge Mönch dem Engländer, der gerade mühsam die Zahl auf seinem Stäbchen entziffert hat. Die Kannon gibt jedem eine zweite Chance.

Am Asakusa-Shinto-Schrein,

gleich neben dem buddhistischen Sensoji, posiert steif eine Braut im traditionellen weissen Übermantel fürs Familienbild, auf dem Kopf trägt sie die traditionelle Haube, unter der sich Ärger und Eifersucht verstecken sollen. 700 000 Yen, rund 7000 Schweizer Franken, haben sie den Priestern geben müssen für die vierzig Minuten Zeremonie. Drei Monatsgehälter für die Götter im Schatten der Kannon. 

Ein junger Mann schreibt einen Wunsch auf ein Holzplättchen

und hängt es zu den anderen Wünschen am Schrein. «Win a lot of money», steht auf seinem Schild.
Von oben wacht derweil kalt das 28stöckige Asakusa-View-Hotel über den schmalen Holzhäusern im Tempelbezirk, der kastenartige Rox-Shoppingkomplex und der Quader des Wettbüros, in denen die Gesichter stummer Spieler an den Monitoren kleben, liegen satt und schwer in der Sonne. Der Lärm aus den Pachinko-Hallen gemahnt an Fabrikhallen.

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Doch die Gemütlichkeit verteidigt ihre Plätze in Asakusa.

Unter den Fujinohana-Ästen etwa, die sich wie ein Himmel über die kleine Gasse breiten, in der es den einzigen Ort gibt, an dem in Asakusa die Zeit wirklich stehengeblieben ist: «Sunny», mehr ein Wohnzimmer als ein Café. Mit neun Wanduhren unter der Decke, deren Zeiger in alle Richtungen zeigen. «Raum und Zeit, hier finden sie zusammen», schwärmt ein Gedicht, das irgendein Poet nach ein paar Bieren hier auf ein Papier gekritzelt hat. Jetzt hängt es gerahmt an der Wand.

Ein Alter beobachtet hinter seiner Zeitung

ein Pferderennen im Fernsehen. «Deep Impact, wer sonst!» krächzt er enttäuscht, als der erste Zosse durchs Ziel prescht; der Typ neben ihm notiert sich noch das Ergebnis vom letzten Lauf. «Yottsu, wakatta!» ruft «Sunny»-Inhaber Toyohiku Mano gerade ins Telefon, «vier Kaffee, kannst du gleich abholen!» Das Wasser kocht schon. Drei alte Damen sitzen am Tresen, rühren in ihren Cappuccini. «Morgen kaufe ich ein Los!» hustet eine. «Dann kannst du ja bald mit deinem Reinigungsladen aufhören», witzeln die anderen beiden. «Und auf Weltreise gehen!» «Die da», flüstert Mano, «ist das wandelnde Internet Asakusas, die weiss hier alles von jedem! Aber was soll’s – wir sind ja auch irgendwie eine grosse Familie, was meinst du Chihiro?» Chihiro Kawakami, der Sohn des 89jährigen Tenugui-Malers Keiji Kawakami, nickt und malt ein paar Kästchen auf eine Serviette, jedes Kästchen für ein Haus.
Text + Bilder: © "DU - das Kulturmagazin", www.du-magazin.com

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