Sirupgetränktes Popcorn, fussballspielende Grossmütter

Vergnügungsboote, Japans erstes Kino, Monstershows und Geishas – im ältesten Viertel Tokyos war die Sinnenlust schon immer zu Hause. Und inmitten Kannon, die vielleicht glücklichste Göttin der Welt.

Um von einer Welt in die andere zu kommen, muss man in Tokyo durchs Dunkel gehen

Salarymen in schwarzen Anzügen verstopfen die U-Bahn, bis zum Bahnhof Ginza scheint es an jeder Station enger zu werden und dichter und dunkler. Dann spült es immer mehr Menschen nach draussen. Die Station Ueno gleitet vorbei, noch ein Stück, dann Asakusa. Aussteigen. Die kühlen gläsernen Fassaden Shimbashis, in denen sich die Zukunft spiegelt, grüssen aus der Ferne, vom Dach der Asahi-Brauerei am Fluss gleisst die von Philippe Starck designte goldene Flammenskulptur im Vormittagslicht wie ein wuchtiger Füller, den jemand dort abgelegt und vergessen hat, an der grossen Kreuzung steht der Morgenverkehr. 

Und dann ist da dieses Tor

Ein wuchtiger knallroter Lampion baumelt in der Mitte, farbenprächtig gewandete Rikschafahrer lümmeln in ihren Gefährten davor, und nun sind es nur noch ein paar Schritte. Hindurch. Auf die andere Seite des Tors. In ein anderes Leben.
Sechsundachtzig Puppenstuben-Läden rechts und links, schnurgerade wie aufgereiht auf zwei Ketten, verborgen noch hinter schweren Rollläden: die Shoppingstrasse Nakamise, die sich dem mächtigen Sensoji, Tokyos grösstem Buddhistentempel, entgegenstreckt, als wolle sie ihm all den Tand in ihren Regalen als Opfergaben darbieten. Die 6-Uhr-Glockenklänge sind zusammen mit den Sutra-Gesängen aus dem Tempelinnern im Atem des Morgens verweht, als der Alltag wie immer hinten beginnt: an den blechbeschlagenen Hinterpforten.

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«Ohayo- Morgen!»

grunzt die gebückte Alte vom Süssigkeitenladen, während sie ein paar ausgeräumte Warenkartons vor die Tür hinter dem Haus stellt, «Genki – alles klar?» Ihre Nachbarin grunzt zurück. «Warst gar nicht im Sentô heute Morgen, was war denn los?» «Mein Bein, weisste doch!» Sie nicken sich zu, sind schon verschwunden, und vorne rattern die Rollläden hoch, enthüllen die falschen Schwerter, die billigen Yukatas, die kitschigen Häschenfigürchen in Kimonos und süsse Kaminariokoshi, eine Art sirupgetränktes Popcorn. In der Seitenstrasse kickt eine betagte Obasan vor einem Schaufenster Bälle mit ihrem Enkel, zwei Fahrradfahrer halten an für ein Pläuschchen, zwei faltige alte Männer hocken vor einem verwitterten Holzbrett in der Morgensonne und spielen Go.
Ein Dorf ist es, das sich noch etwas träge der Morgensonne entgegenstreckt. Ein Dorf in der grössten Stadt der Welt, mitten im 16-Millionen-Moloch Tokyo. Ein Dorf namens Asakusa.

«Asakusa ist eine Hure!»

...kichert Ryoko, während sie im Kannon-Onsen auf einem Schemel sitzt und ihre Wäsche mit einem Stück Seife rubbelt. «Asakusa hat sich immer gut verkauft, so haben wir hier auch leben können! Die alten Shogune haben Asakusa oft mit einer Lotosblume verglichen: eine wunderschöne Pflanze, die besonders gut auf modrigem Schlamm wächst!»
Ryoko, 56, kommt jeden Tag hierher. Wie die kleine Alte, die neben dem dampfenden Becken in der feuchten Luft ihre Gymnastik macht, jeden Morgen, seit vielen Jahren schon, bevor sie zum Arbeiten in der Küche des Ramen-Shops im nächsten Block verschwindet.
Die gekachelten Wände sehen aus, als hätten sich die Jahre an ihnen festgekrallt, auf den beschlagenen Spiegeln prangt Bierwerbung. Ryoko klaubt ihre Sachen zusammen und tapst über den nassen Boden in die Umkleidekabine. Zwei Trockenhauben aus den Siebzigern starren auf die durchgesessenen Sessel, Staub entspannt sich auf der Massagematte, der Sumokalender, auf dem die wichtigsten Kämpfe der nächsten Zeit vermerkt sind, trägt eine Patina, die ihm noch nicht zusteht.
«Ohne die Kannon», sagt Ryoko versonnen, «wären die meisten von uns hier verloren.»
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Kannonsama, die Göttin des Mitgefühls.

Ein weiblicher Buddha sozusagen. Sie kam, als Asakusa noch ein wirkliches Dorf war, dem der Schlamm des Sumida-Flusses ordentlich zusetzte, feucht und sumpfig und voller Bürger, denen das Wasser auch ohne Überschwemmungen manchmal bis zum Hals stand. Doch eines Tages, im Jahre 628, kam just aus dem Sumida der Segen: In den Netzen der beiden Fischerbrüder Hamanari und Takenari verfing sich eine Mini-Statue, gülden glänzend. Der Dorfälteste Haji no Nagatomo erkannte in ihr sogleich die Kannon und machte sein Haus zu ihrem Tempel.

In den folgenden Jahrhunderten

strömten immer mehr Leute zum Beten nach Asakusa, die Pilger rückten an, die Mächtigen des Landes – und das Vergnügen, vor allem während der Edo-Zeit zwischen 1603 und 1868. Herrliche Düfte von brutzelnden Leckereien und süssen Kuchen vermischten sich mit dem Geruch der Räucherstäbchen, die Glockenschläge aus dem Tempel mit der Musik auf den Strassen. Jesus warf die Händler einst aus dem Tempel – in Asakusa wurden sie willkommen geheissen.

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Die Götter, fand man in Japan stets, wollen unterhalten sein,

das stimmt sie gewogen. Theater, Farben, Licht und Lachen, als Götterschmaus ein gutes Essen – was soll da noch schiefgehen? Das Vergnügen tanzte den Veitstanz in Asakusa. 
Aus der Stadtmitte Edos, wie Tokyo früher hiess, verbannten die Shôgune im 19. Jahrhundert die Kabuki-Theater nach Asakusa, auf den Bühnen gab es die verwegensten Stücke zu sehen, das Denkikan, Japans erstes Kino, zog 1903 in den Bezirk, noch bevor Amerika und England ein Lichtspielhaus kannten.

Durch den 1853 eröffneten Hanayashiki-Blumengarten

flanierten schäkernd die Pärchen, bevor der Welt neueste Karussells sich dort breitmachten; in den Misemono-Buden stellten sich die Kleinwüchsigen und Entstellten zur Schau und die Händler boten entzückende Kimonostoffe und Bänder und Kämme feil. 
Katzen- und Mädchenfänger, Vergnügungsboote auf dem Sumida, Spieler und Spelunken; ein einziges Irrenhaus sei Asakusa, notierte der Schriftsteller und spätere Nobelpreisträger Yasunari Kawabata über die 1920er Jahre in seinem Buch Die rote Bande von Asakusa.
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Baumscheren nur von Familie Hirano

Zur Göttin waren derweil auch die Göttinnen gekommen – die Nutten. Mit Yoshiwara hatten sie in Edo schon 1617 ein eigenes Viertel in Tempelnähe bekommen. Eine Welt der Lust, nur wenige Minuten hinter dem Sensô-ji. «Wir beten heute zur Kannon!» hiess es, wenn einer sich einen schönen Tag machen wollte.

Ganze Familien bummelten durch Yoshiwara,

wo die Kurtisanen stets nach dem letzten Schrei gekleidet waren, wo Moden kreiert und Trends gemacht wurden. Asakusa war hip. Und mittendrin, in einem mittlerweile prächtig herangewachsenen Tempel: Kannon, die vielleicht glücklichste Göttin der Welt. 
Und eine Glücksgöttin für Asakusa, ist To-ru Tanaka überzeugt. Der Neunzigjährige stellt ein paar knallrot gelackte Sandalen zu den anderen im Regal, schaut prüfend den Inhalt zweier kleiner Kisten voller bunter Bänder durch.
1940 hatte er seinen «Go-do Hakimono»-Laden gleich um die Ecke vom Sensoji eröffnet, damals klapperten die traditionellen Holzsohlen noch überall auf dem Asphalt Asakusas: «Jeder trug Geta und Zori, praktisch ein ganzes Leben lang», erinnert sich der Alte. «Das Geschäft mit den traditionellen Sandalen ist natürlich weniger geworden, aber dank Kannon geht es uns trotzdem gut!»

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Asakusas Trendverliebtheit fütterte nämlich auch die Tradition:

Im Dunstkreis der Pilgerströme hatten die Kunsthandwerker stets gut zu tun. Noch heute kaufen die Buddhistenmönche und Shinto-Priester bei Tanaka ein – ebenso wie die Kabuki-Schauspieler und das Filmgewerbe. «Fast jeden Tag kommt eine Bestellung für Dreharbeiten zu irgendeinem alten Samuraifilm!» freut sich der alte Mann.

Seinen Kollegen geht es nicht anders:

Die vierhundert Kirschbäume im Sensoji-Garten werden nur mit Baumscheren von der Familie Hirano geschnitten, die ihren Laden «Kaneso» nun schon in der fünften Generation führt; auch die Friseure der Sumoringer bestellen hier ihre Itokiri-Scheren. Der alte Abakus-Laden von Hiromi Iwasaki rettete sich als einziges Geschäft für die alten Rechenhilfen in ganz Tokyo in die Neuzeit, und Osamu Arai, dessen Familie den kleinen Fächerladen «Bunsendo» führt, kann sich vor Anfragen nach seinen handbemalten Fächern vor allem zu Zeiten der Tempelfeste kaum retten.

Sogar die Chochinmaler blieben Asakusa

- mit ihrer Kunst, Papierlaternen mit wunderschönen Mustern und Schriftzeichen zu verzieren. So bullern nach wie vor auch bei den Ondas die Kerosinöfen in der kleinen Werkstatt, die Grossvater Onda hier vor achtzig Jahren eingerichtet hatte. 
Chunji, 58, malt gerade das Kanji für «Frieden» auf eine Laterne, sein Schwiegersohn Osamu, 29, rührt in rotem Lack, der vierjährige Yuto erzählt stolz, dass er jetzt im Kindergarten vom Sensoji ist, und holt aus einer Ecke die erste kleine Laterne, die er selbst bemalt hat. «Mir war völlig klar, dass wir das Geschäft von Vater weiterführen würden», sagt Chunjis Tochter Satomi, während sie zwischen Pinseln und Farbgläschen mit dem zweijährigen Ryoto spielt. 
«Das ist ein sehr spezieller Laden, und wir können alle davon leben. Wäre doch dumm, das aufzugeben.»
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«Wir halten hier zusammen»

Einmal im Monat treffen sich die Kaufleute und Handwerker aus ihrem Teil des Viertels, planen die nächsten Stadtteilfeste, sprechen Verkaufspreise ab, plaudern über neue Läden und das, was man an Klatsch aus der Kabuki-Szene hört.

«Asakusa ist nicht Tokyo. Wir hier halten zusammen»

sagt Satomi. «Und irgendwann werden Yuto und Ryoto den Laden übernehmen.» Weil sie rechnen können – nicht aus verklärter Romantik und Nostalgiegefühlen heraus. Für den Blick zurück hat man in Asakusa ohnehin nicht viel übrig. 
«Wer das da neben Opa ist – keine Ahnung», rätselt die Achtundzwanzigjährige, während sie durch ein altes Fotoalbum blättert, das sie der Fremden zuliebe aus einer Kiste gezerrt hat. «Und das hier war wohl der Bau dieser Werkstatt. Nach dem Erdbeben damals, oder Oto-san?» Ihr Vater guckt etwas ratlos: «Tja, vom Erdbeben hat der Grossvater wohl schon öfter erzählt, aber ehrlich gesagt hat ihm nie jemand richtig zugehört.»

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Das grosse Kanto-Beben 1923, Trümmer-Tokyo.

Der Zwölfstöcker barst entzwei, Steinhaufen dort, wo vorher Häuser standen. Die Flammen leckten schon am Sensoji. Da drehte der Wind ganz plötzlich, Regen prasselte auf den Tempel. 
«Ein Wunder», raunten die Leute von Asakusa. Und rappelten sich wieder auf. Damit kannten sie sich aus – Asakusa flirtete mit dem Leben stets wie mit dem Tod. Unzählige Brände hatten die Gassen mit den Holzhäusern immer wieder verwüstet. Beim Feuerwerk, das im Sommerhimmel tanzte. Oder wenn die Trinker im Sake-Suff vergassen, die Kerzen auszudrücken, bevor sie auf ihren Tatamimatten in den Schlaf fielen.

Und schliesslich die Bomben des Krieges.

Immer verscheuchte hernach wieder Aufbruchstimmung die Verzweiflung aus den engen Strassen. Das alte Kaminarimon, das Donnertor mit dem roten Lampion – auferstanden aus Ruinen.
Der Präsident von Panasonic persönlich bezahlte 1960 den Wiederaufbau, aus Dankbarkeit dafür, dass ein Priester vom Sensoji sein Knie geheilt habe. Wer nicht genau hinguckt, könnte es für ein Edo-Relikt halten. Anderswo in den Gassen gab man sich weniger Mühe, schnöden Beton zu verstecken, der die abgebrannten Holzfassaden ersetzen sollte.
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Zum Dessert ein bisschen Glück

Mittag ist es geworden, in den Ramen-Buden hocken die Strassenhändler auf eine schnelle Suppe. 
Zum Dessert ein bisschen Glück von der Kannon: 100 Yen, 1 Franken, kostet es, die Dose mit den numerierten Stäben zu schütteln, bis einer herausfällt. Unter der Nummer findet man in einem der unzähligen Schublädchen in einer Tempelzwischenwand schliesslich die Weissagung. Ist sie wohlwollend, trägt man sie in der Jackentasche mit sich herum; ist sie von Übel, hängt man sie gefaltet an ein Gestell im Tempel. 
«Schütteln Sie noch mal!» rät der junge Mönch dem Engländer, der gerade mühsam die Zahl auf seinem Stäbchen entziffert hat. Die Kannon gibt jedem eine zweite Chance.

Am Asakusa-Shinto-Schrein,

gleich neben dem buddhistischen Sensoji, posiert steif eine Braut im traditionellen weissen Übermantel fürs Familienbild, auf dem Kopf trägt sie die traditionelle Haube, unter der sich Ärger und Eifersucht verstecken sollen. 700 000 Yen, rund 7000 Schweizer Franken, haben sie den Priestern geben müssen für die vierzig Minuten Zeremonie. Drei Monatsgehälter für die Götter im Schatten der Kannon. 

Ein junger Mann schreibt einen Wunsch auf ein Holzplättchen

und hängt es zu den anderen Wünschen am Schrein. «Win a lot of money», steht auf seinem Schild.
Von oben wacht derweil kalt das 28stöckige Asakusa-View-Hotel über den schmalen Holzhäusern im Tempelbezirk, der kastenartige Rox-Shoppingkomplex und der Quader des Wettbüros, in denen die Gesichter stummer Spieler an den Monitoren kleben, liegen satt und schwer in der Sonne. Der Lärm aus den Pachinko-Hallen gemahnt an Fabrikhallen.

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Doch die Gemütlichkeit verteidigt ihre Plätze in Asakusa.

Unter den Fujinohana-Ästen etwa, die sich wie ein Himmel über die kleine Gasse breiten, in der es den einzigen Ort gibt, an dem in Asakusa die Zeit wirklich stehengeblieben ist: «Sunny», mehr ein Wohnzimmer als ein Café. Mit neun Wanduhren unter der Decke, deren Zeiger in alle Richtungen zeigen. «Raum und Zeit, hier finden sie zusammen», schwärmt ein Gedicht, das irgendein Poet nach ein paar Bieren hier auf ein Papier gekritzelt hat. Jetzt hängt es gerahmt an der Wand.

Ein Alter beobachtet hinter seiner Zeitung

ein Pferderennen im Fernsehen. «Deep Impact, wer sonst!» krächzt er enttäuscht, als der erste Zosse durchs Ziel prescht; der Typ neben ihm notiert sich noch das Ergebnis vom letzten Lauf. «Yottsu, wakatta!» ruft «Sunny»-Inhaber Toyohiku Mano gerade ins Telefon, «vier Kaffee, kannst du gleich abholen!» Das Wasser kocht schon. Drei alte Damen sitzen am Tresen, rühren in ihren Cappuccini. «Morgen kaufe ich ein Los!» hustet eine. «Dann kannst du ja bald mit deinem Reinigungsladen aufhören», witzeln die anderen beiden. «Und auf Weltreise gehen!» «Die da», flüstert Mano, «ist das wandelnde Internet Asakusas, die weiss hier alles von jedem! Aber was soll’s – wir sind ja auch irgendwie eine grosse Familie, was meinst du Chihiro?» Chihiro Kawakami, der Sohn des 89jährigen Tenugui-Malers Keiji Kawakami, nickt und malt ein paar Kästchen auf eine Serviette, jedes Kästchen für ein Haus.
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«Eigentlich fegen Asakusas Leute erst mal vor ihrer eigenen Haustür»,

erklärt er. «Aber rechts und links und nach vorne hin fegt man höflicherweise immer auch genau einen Fuss lang darüber hinaus. 
So ist es hier mit allem: Man guckt immer ein bisschen, was der Nachbar macht. Jeder weiss praktisch alles. Schon weil die Wände so dünn sind. Aber man tut so, als wüsste man nichts. 
Als Halbwüchsiger fand ich das furchtbar. Ich fühlte mich immer unter Beobachtung. Bis ich begriff: Das ist ein Teil meiner Freiheit, dass ich immer gut aufgehoben bin!» Chihiro hat sich nie gefragt, ob auch er, wie sein Vater, die Allzwecktücher, die Tenugui, bemalen wollte, die sie im kleinen Laden im Tempelbezirk verkaufen; er malte einfach. Weniger Mönche und Schreine als sein Vater vielleicht, peppiger und moderner halt.

Nebenbei managt Chihiro den Tempelkindergarten,

plant ein neues, revolutionäres Kabuki-Theater, organisiert Ausstellungen und überlegt schon, wie man noch mehr Touristen nach Asakusa holen könnte, wenn ab 2011 der neue Fernsehturm, der «World Tower Sumidaku», erst einmal in der Nähe steht. Visionen für Asakusa. Für einen Stadtteil, der alt werden, aber nicht altern will. An der Rokkudori, ein paar Strassen weiter, ist unterdessen der Nachmittag eingezogen. Von den Plakaten schreien die grotesk bemalten Gesichter der Kabuki-Schauspieler, die Heiligen der Komödien und Dramen.

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Auf Asakusas Bühnen beginnen oft Weltstadtkarrieren,

immer noch. Die Neujahrsvorstellungen im Engei-Schauspielhaus, wenn die Kabuki-Newcomer sich vorstellen – ausverkauft, alle Jahre wieder. Das Publikum ein buntes Durcheinander. 

«Die schönsten Kimonos kann man da sehen»,

schwärmt eine Frau, die gerade ein Ticket fürs Wochenende kauft. Morgen wird wieder einmal ein Rakugo-Künstler auftreten, ein Geschichtenerzähler. Asakusas Urgesteine, Dinosaurier in der zersiedelten Landschaft der Kultur. Ein paar Werber versuchen halbherzig, ein junges Pärchen ins Theater zu locken, während nur wenige Meter weiter eine Stripshow nackte Tatsachen verspricht.
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Touristen glauben, sie seien in einem Fest

Ein alter Mann zieht seine Habe auf einem Handwagen über die Strasse. «Früher musste man im Hanayashiki keinen Eintritt zahlen», erzählt der Ticketverkäufer. «Aber dann bauten die Obdachlosen dort abends immer ihre Betten. Jetzt nimmt der Park Eintritt und schliesst abends zu. Dort drohten jedoch die Lichter zu verlöschen, als die Achterbahnbetreiberfirma «Togo Japan» 2004 Konkurs anmeldete. Die Leute von Asakusa rotteten sich schon zu einer Spendenaktion zusammen, als die Firma Banpresto, Hersteller unter anderem von Tandgewinnen für Pachinkohöllen, den Vergnügungspark übernahm.

«Mein Vater sagte immer:

Keiner kann den Leuten den Spass nehmen», erzählt die 83jährige Hatsue Takei, die sich bis vor wenigen Jahren vor Ort als Kuratorin um den Vergnügungspark kümmerte. Inzwischen lebt sie mehr im Krankenhaus als daheim. Nach dem Krieg, erinnert sich Hatsue, wollten Yakuza den Park übernehmen, «mit einem japanischen Schwert haben sie meinen Vater am Verhandlungstisch bedroht, aber der sagte nur: Tötet mich nur!» Am Ende trollten sich die Jungs, beteuert sie stolz.

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«Manche Touristen denken, sie seien in ein Fest geraten»,

erzählt Yoshie, der die Fremden mit seiner Rikscha durch die Strassen kutschiert. «Da müssten sie mal sehen, wie wir wirklich feiern!» Rund fünfundsechzig Feste im Jahr verzeichnet der Stadtteilkalender, darunter das aufgeregte Samba-Fest im August. Und Sanja Matsuri, Asakusas grösstes Spektakel an gleich mehreren Tagen im Mai. Rund eine Million Neugierige schieben sich dann durch die Gassen. Elegante Geishas, vornehme Kaufleute, anpackende Handwerker, Touristen. Und Yakuza, die Männer vom Yamaguchi-Gume-Clan zum Beispiel. Am Sanja Matsuri erzählen ihre sonst eher in weissen Anzügen gewandeten Oberkörper ganze Geschichten – Tätowierungen, die zu enthüllen in Japan verboten ist.

Nur an Sanja Matsuri macht die Obrigkeit eine Ausnahme

– wenn die starken Männer auf ihren Schultern die Omikoshi, kleine, goldglänzende Schreine, durch die Strassen wuchten. Sänften für die Götter, die verstehen, dass die Welt ein Oben und Unten hat. Ober- und Unterstadt. Ober- und Unterwelt.
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Der Sohn von Kim Jong Il war da

Aber trotz Festen: Die Alten sagen, es sei ruhiger geworden in Asakusa. An Markttagen räumen die Händler ihren Kram heute bereits mittags zusammen, das Gewimmel hält nicht an. Die Stadt wuchs halt, und irgendwie wuchsen wohl auch die Dinge und Menschen aus Asakusa hinaus. Die Jugend zog ins lärmende Lichterstakkato des Fashionstadtteils Shibuya, die Bars und Nutten ins glitzernde Rotlichtviertel Shinjuku.

Darüber ist auch das alte Kurtisanenviertel Yo-shiwara müde geworden.

Nicht mal auf der Strassenkarte ist das Viertel eingetragen, auf dem Weg vom Tempel ins einstige Mekka der Schönheit steht die Hässlichkeit Spalier – graue Wohnblocks, breite Asphaltbänder, billige Lovehotels, in die sich die Lust nur mühsam schleppt. 

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Ungezähmte Bedeutungs- und Reizlosigkeit.

Tagsüber gähnen Yoshiwaras Strassen, die Schlepper vor den Badehäusern, den sogenannten «Soaplands», treten lustlos von einem Bein aufs andere, ein paar Zuhälter polieren ihre Angeberschlitten, die der Gegend ihren einzigen, schwachen Schimmer verleihen. Abends blinken hier und da ein paar Lichter mehr, ein grünes, gelbes, rotes Stakkato der Monotonie, manchmal schaffen es ein paar Musikfetzen auf die Strasse, wenn eine Tür sich öffnet.

1958 hatten die Amerikaner die Bordelle geschlossen.

Liebe darf man offiziell nicht kaufen in Japan. Allenfalls das Vergnügen, sich in einem warmen Bad zu entspannen und sich anschliessend massieren zu lassen. «Mit fünf Kunden am Tag ist es okay für mich», sagt Rika aus dem «Blue Note», eine Thai wie viele ihrer Kolleginnen, die halbnackt und irgendwie-um-die-20-Jahre-alt darauf warten, dass sie einen Fremden mit Flüssigseife und ihrem Körper abreiben können. «Für mich wären auch Ausländer okay, aber die wollen sie hier nicht.»

Vor ein paar Jahren, davon erzählen sie heute noch,

war der älteste Sohn des Nordkorea-Diktators Kim Jong Il da, im teuren «Y»-Soapland. Einer mit Geld, der es auch ausgeben wollte. «Der hätte lieber zu mir kommen sollen», lacht Rika. Natürlich wird sie zurückgehen irgendwann, mit viel Geld in der Tasche, natürlich wird sie heiraten, ein guter Mann und Kinder gehören in ihre Tagträume. Wenn sie erst mal fertig ist mit Yoshiwara, diesem Niemandsland mit den vergessenen Häuserzeilen.
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Geisha ist ein Job. Schön, aber hart

Auf halbem Weg zum Sensoji und doch Welten von ihm entfernt malt Norie ihren Mund gerade zu einer kleinen roten Kirsche. Wirtschaftswissenschaften hat sie studiert, und manchmal hört sie Rockmusik, surft im Internet oder schreibt sms an ihre Freundinnen. Bevor sie sich am Nachmittag in einem kleinen Okiya-Haus hinter der Kototoi dori in einen Schmetterling der Nacht verwandelt. Mit prächtigem Kimono und weissem Gesicht.

Norie ist eine Geisha,

wie schon ihre Mutter und Grossmutter.Eine Frau, zu deren Geheimnissen ihr Geburtsjahr gehört, denn «eine Geisha hat kein Alter». Die Zeiten, in denen eine Geisha mit ihren «Schwestern» unter der Knute ihrer Okasan, einer Art Ziehmutter, in der Okiya lebte, sind längst vergangen. Norie und ihre Kolleginnen leben in eigenen Wohnungen und kommen vor den Engagements nur zum Umziehen in das Geisha-Haus. «Manchmal fragt mich ein ausländischer Kunde, ob ich damals von meinen Eltern verkauft wurde», amüsiert sie sich.

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Die meisten Okiyas haben heute Websites,

und die Mädchen bewerben sich übers Internet. «Geisha ist ein Job. Schön, aber hart. Und leider viel zu selten geworden.» 394 Teehäuser mit Geishas weist der Vergnügungsführer von 1869 noch für Asakusas Tempelbezirk aus, die Geisha-Vereinigung stiftete sogar die grosse Steinlaterne am Sensoji, verziert mit den Namen der edlen Damen. Heute sind beim «Kenban», der offiziell zuständigen Geisha-Agentur in Asakusa, nur noch einundfünfzig Geishas registriert, vierzig davon arbeiten tatsächlich als exquisite Unterhalterinnen.
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Fast schon Abendstimmung in der Nakamise

Die Farben leuchten ein bisschen bunter jetzt, Schulmädchen probieren kichernd Gummimasken mit Politikergesichtern an, Kinder belagern einen Stand mit Reiscrackern. Die alte Hure Asakusa lacht noch einmal auf. Schaut mich an, ruft sie heiser, ich habe alles, was ihr wollt, alles, alles, alles. Sie dreht sich und tanzt und schwankt ein wenig, der Schund lärmt und der Kitsch schreit.

Die Rollläden rattern herunter.

Dunkelheit trübt die Farben ein. Norie greift nach ihrer Shamisen, Mano brüht sich selbst einen letzten Kaffee, bei den Ondos sitzen sie derweil vor einem dampfenden Topf mit weissem Reis und vor eingelegtem Gemüse, Tofu und Saba, Makrele. Am Rox und zwischen den Pachinkohallen klauben ein paar Obdachlose ihre Pappkartons zusammen, mit denen sie sich später in den Arkaden eine geschützte Bettstatt bauen werden.

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Die Kannon empfängt ihre letzten Besucher;

mit den Händen winken sie sich den Weihrauch vors Gesicht, wo er gegen Falten helfen und für einen klaren Kopf sorgen soll. «Es heisst», sagt der Mann am Ticketverkauf des Kabuki-Theaters, «dass die kleine Statue im Tempel in Wirklichkeit schon seit Jahrhunderten verschwunden ist.» Keiner weiss das so genau in Asakusa. Und vielleicht will es auch keiner so genau wissen. Solange morgen ein neuer Tag ist.
Mit bunten Ständen voller duftender Kaminariokoshi, Aufträgen für neue handbemalte Laternen, feingeschliffene Scheren, seidige Getas. Mit grellbunten Kabuki-Gesichtern auf den Bühnen und lärmender Achterbahn im Hanayashiki. Mit Spass, Lachen, Leben. Und einem mächtigen Sensoji, der im Licht der Tokyoter Sonne leuchtet.

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